In Nordrhein-Westfalen gibt es bis Donnerstagnachmittag sechs bestätigte Corona-Fälle und einige weitere unbestätigte Verdachtsfälle, auch am Niederrhein und somit im Verbandsgebiet des FVN. Prof. Dr. Tim Meyer, Vorsitzender der Medizinischen Kommission des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und Nationalmannschaftsarzt, spricht darüber, welche wichtige Rolle der Fußball im Rahmen eines besonnenen Umgangs mit der aktuellen Ausweitung des Coronavirus in Deutschland übernehmen kann - hier ein aktuelles DFB.de-Interview mit Tim Meyer.
Prof. Dr. Meyer, bei Epidemien spricht man von der Phase des "Containment". Was ist damit gemeint?
Prof. Dr. Tim Meyer: Noch bis Mittwochmorgen waren alle in Deutschland bekannten Fälle einer Corona-Infektion irgendwo im Ausland erworben. Niemand hatte sich in Deutschland angesteckt. Man verfolgte folgerichtig die Strategie, diese Personen zu isolieren, um somit zu verhindern, dass sich weitere Personen anstecken. Seit gestern, Mittwoch, sind wir offenbar in Deutschland nicht mehr in einer lupenreinen "Containment"-Phase, also in einer Phase der Eindämmung. Jetzt haben wir in mehreren Fällen dokumentierte Ansteckungen innerhalb Deutschlands. In einem Fall wird von 300 Personen bei einer Karnevalssitzung berichtet, die potenziell in Kontakt mit dem Erkrankten standen. Meine Hoffnung ist eher gering, dass es uns gelingt, alle Infektionsketten nachzuverfolgen und somit Erkrankte immer rechtzeitig isolieren können.
Die italienische Liga führt am Wochenende etliche Spiele als Geisterspiele durch. Erwarten Sie in Anbetracht der Situation in Deutschland ebenfalls, dass Spiele im Profifußball, also etwa auch im DFB-Pokalviertelfinale am kommenden Dienstag und Mittwoch, ohne Publikum ausgetragen werden müssen?
Meyer: Sicherlich ist dies eine Überlegung, die infrage kommt. Ich glaube aber, dass es sinnvoll ist, dass der Fußball nicht isoliert entscheidet, sondern in Absprache mit den Gesundheitsbehörden. DFB und DFL stehen in engem Austausch mit den zuständigen Institutionen. Entscheidungen über flächendeckende Maßnahmen wie einen Zuschauerausschluss im Profifußball oder Spielabsagen in den Kreisligen müssen die Gesundheitsbehörden treffen, denn dabei sind neben Aspekten der Infektionsvorbeugung auch solche des gesamten öffentlichen Lebens zu berücksichtigen, von dem der Fußball nur einen Teilbereich darstellt. Was der Fußball aber aus meiner Sicht leisten sollte, ist, sich zu wappnen und vorzubereiten, damit wir von der Spitze bis an die Basis eventuelle Maßnahmen schnell und kompetent umgesetzt bekommen.
Warum bergen Profifußballspiele aus medizinischer Sicht überhaupt etwa im Vergleich zum Büroalltag oder dem Einkaufsbummel ein erhöhtes Risiko?
Meyer: Die Zuschauer treten in engen Kontakt, man denke nur an die Stehplätze, wo sich die Fans etwa nach einem Tor der eigenen Mannschaft in die Arme fallen. Die Gefahr einer Übertragung des Virus' ist dadurch beträchtlich höher, als wenn man einen vernünftigen Abstand hat. Die Problematik ist aber natürlich auch gegeben, wenn man auf dem Weg zur Arbeit in einem enggepackten Straßenbahnwagon steckt.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat am Mittwoch gesagt, dass er mit einer weiteren Ausbreitung des Virus rechnet. Was kann der DFB für den Fußballbetrieb tun, um das Ansteckungsrisiko zumindest etwas zu minimieren?
Meyer: Der DFB kann in seinem Zuständigkeitsbereich dafür sorgen, dass keine unnötigen Risiken eingegangen werden. Heute Morgen hat der DFB etwa die Länderspielreise der U 20-Juniorinnen nach Japan abgesagt. Stefan Kuntz, der ja als U 21-Trainer das Olympiateam trainiert, wollte eigentlich dieser Tage zu einer Inspektionsreise nach Tokio aufbrechen. Auch diese Reise ist abgesagt. Unter dem Dach des DFB versammeln sich 7,1 Millionen Mitglieder und rund 25.000 Vereine. Damit ist der Deutsche Fußball-Bund eben auch ein enormer Multiplikator. Der DFB kann also sehr wirksam über die Infektionsschutzmaßnahmen aufklären, wie Händehygiene oder Abstand halten.
Was genau meinen Sie mit Händehygiene?
Meyer: Jeder sollte sich mindestens fünfmal täglich gründlich die Hände waschen, mit Seife, mindestens 30 Sekunden lang. Alternativ oder zusätzlich kann man auch ein Desinfektionsmittel verwenden. Darüber hinaus sollte insbesondere zu unbekannten Personen, aber auch zu solchen mit Erkältungssymptomen nach Möglichkeit ein Abstand von mindestens einer, besser zwei Armlängen eingehalten werden.
Was kann ein kleiner Fußballverein noch machen?
Meyer: Die Vereine sollten möglichst schnell, möglichst lückenlos alle Mitglieder, die Spielerinnen und Spieler, die Trainerinnen und Schiedsrichter, informieren - insbesondere über Maßnahmen zum Infektionsschutz. Und darüber, dass man im Falle von Fieber oder eines Atemwegsinfekts nicht ins Training, sondern zum Arzt gehen sollte.
Die meisten haben sich inzwischen gut informiert. Dennoch, bitte erklären Sie uns nochmal gebündelt, was man über die Übertragung und den Krankheitsverlauf noch wissen sollte?
Meyer: Die Corona-Infektion hat eine Inkubationszeit von bis zwei bis 14 Tagen, also eine Zeitphase, in der man noch keine Symptome aufweist. In dieser Zeit kann man aber sehr wohl den Virus schon übertragen. Man steckt sich vorwiegend über eine sogenannte Tröpfcheninfektion an. Dabei handelt es sich um kleinste Speichelpartikel aus dem Mundbereich eines Infizierten. Zum Beispiel kann das passieren über Anhusten. Der wohl wichtigste Übertragungsweg ist aber über die Hände, über angefasste Türklinken oder kontaminierte Oberflächen. Die Schutzmaßnahmen sind genauso wie bei der Influenza. Die Krankheit selbst zeigt einen sehr variablen Verlauf. Von schweren Verläufen sind häufiger alte und vorerkrankte Menschen betroffen. Diese Risikogruppe sollte sich also besonders sorgfältig an die vorbeugenden Maßnahmen halten. Die Zahl der Infizierten in Deutschland wird in den kommenden Tagen sicher ansteigen.
Die Medien berichten, die Letalität liege bei zwei bis vier Prozent, also dass von 100 Infizierten zwei bis vier Menschen sterben.
Meyer: Diese Zahlen, wie viele Sterbefälle pro 100 Erkrankten auftreten, werden berichtet, sind aber natürlich noch vorläufig. Die Erkrankung ist, so unser Kenntnistand, erst seit Anfang Dezember auf der Welt. Das ist einfach ein relativ kurzer Zeitraum, man steht in vielerlei Hinsicht noch am Anfang der Erkenntnisgewinnung. Und diese Zahlen zur Letalität basieren sehr stark auf der Situation in China. Das aber sind Menschen mit einer möglicherweise anderen Immunlage und anderen früheren Erregerkontakten. Und dazu kommt: Da es so viele milde Verläufe der Erkrankung gibt, könnte es sein, dass die Zahl der Infizierten höher liegt, als wir wissen. Wäre das wirklich so, müsste die Letalität des Coronavirus' nach unten korrigiert werden.
In wenigen Wochen spielt die Nationalmannschaft in Madrid gegen Spanien und in Nürnberg gegen Italien. Wie wollen Sie die Spieler schützen?
Meyer: Wenn die Spiele tatsächlich stattfinden, was ja sehr abhängig ist von den Entwicklungen der Epidemie und den Entscheidungen der Gesundheitsbehörden, würde ich unseren Spielern genau die Verhaltenstipps geben, über die wir jetzt gerade auch gesprochen haben. Wir haben keinen Impfstoff. Und es wird geschätzt auch noch mindestens bis zum Jahresende dauern, bevor wir so einen Impfstoff haben. Den Körperkontakt des Fußballs kann man nicht vermeiden. Wir spielen gegen Italien, also das europäische Land mit den aktuell meisten Infizierten. Momentan sind Prognosen über den weiteren Verlauf in den kommenden Tagen fragwürdig. Was in vier Wochen sein wird, kann man aktuell kaum prognostizieren.
Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Aber wie sehr muss man sich aus Ihrer Sicht aktuell Sorgen machen?
Meyer: Man muss nur auf die Grippe schauen. Wissen Sie, wie viele Menschen so ungefähr an der Grippe sterben? Das sind pro Jahr im Durchschnitt einige tausend Todesfälle. Und gegen den Coronavirus haben wir jetzt schon etliche Maßnahmen auf den Weg gebracht.