Integration

Zweimal geflohen: Trio aus Nigeria mit doppelter Fluchtgeschichte

Wie drei Spieler aus Nigeria, die zwischenzeitlich in der Ukraine lebten und kickten, zum Glücksgriff für Glückauf Möllen wurden.
29. Dezember 2022 Allgemein | GlobalText: Heiko Buschmann
Zweimal geflohen: Trio aus Nigeria mit doppelter Fluchtgeschichte
Bildquelle: Bernd Kniel/Glückauf Möllen
Hans Gutjahr (Mitte) mit Willy (links) und Prince (rechts). Nicht im Bild: Ikoro Felix Chukwama.

Als im März dieses Jahres plötzlich ein junger Mann auf dem Sportplatz an der Rahmstraße auftaucht und etwas unschlüssig wirkt, spricht ihn Hans Gutjahr einfach an. Er ist der erste Vorsitzende des Bezirksligisten Glückauf Möllen, der Zaungast heißt Ikoro Felix Chukwuma. Er kommt ursprünglich aus Nigeria und möchte gerne Fußball spielen. Das Problem: Er hat keine Fußballschuhe. „Kein Geld“, gibt er gegenüber Hans Gutjahr schüchtern zu. „Dann habe ich ihm erst einmal welche gekauft, und auch ein paar Trainingsklamotten.“

Ikoro Felix Chukwama ist nicht auf direktem Wege aus dem westafrikanischen Land nach Deutschland gekommen. Vorher war der heute 26-Jährige in der Ukraine – genauso wie Prince Chigamezu Ibgozuruike (23) und Cristian „Willy“ Isioma Kelubia (21). Die drei Nigerianer haben eine gleich doppelte Fluchtgeschichte hinter sich, zunächst weg vom Terror und den instabilen Verhältnissen in ihrer Heimat. Als sie im vermeintlich sicheren Europa ankommen, bricht auch dort plötzlich ein Krieg aus.

„Wir haben uns in der Ukraine wohl gefühlt, man hat uns dort willkommen geheißen. Natürlich haben wir unsere Heimat, unsere Familien und Freunde vermisst“, erzählt Prince Chigamezu Ibgozuruike. „Aber in Nigeria war es gefährlich, deshalb mussten wir unser Heimatland verlassen.“

Die drei sind Christen, seit die Terrorgruppe Boko Haram das Land mit ihrer Gewalt in Atem hält, müssen Christen mit dem Tod rechnen. Prince Chigamezu Ibgozuruike, der aus der Provinz Imo State im Süden des Landes kommt, hat seine Großeltern nach Anschlägen verloren. „In Nigeria gibt es viele verschiedene Ethnien und Religionen, aber mächtige und gefährliche Gruppen wollen das Land islamisieren“, berichtet er. „Und weil man den Politikern nicht vertrauen kann, sind wir ausgereist, bevor es uns auch trifft.“

Dass es sie ausgerechnet in die Ukraine verschlägt, hat einen Grund: den Fußball. Prince und „Willy“ kennen sich bereits aus Nigeria, sie kicken dort in der Jugend in verschiedenen Akademien. Felix treffen sie erst Jahre später in einer Flüchtlingsunterkunft in Voerde am Niederrhein und landen über ihn bei Glückauf Möllen. Doch starten Prince und „Willy“ in einem Land einen Neuanfang, von dem sie vorher noch nie gehört haben. „Wir kannten die USA und Deutschland, aber die Ukraine?“, sagt Prince Chigamezu Ibgozuruike.

“Willy” im Kampf um den Ball.

Sie kommen in Lviv an, im Westen des Landes, knapp vier Jahre ist das her. Vorher haben sie in ihrer Heimat Nigeria gehört, dass man in der Ukraine als Profi oder zumindest Halbprofi sein Geld mit Fußball verdienen kann. Sie spielen beim Viertligisten Leo Keramika und erhalten eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung – dann marschieren die Russen im Februar 2022 in der Ukraine ein. „In Lviv war es anfangs noch recht ruhig, aber irgendwann sind auch bei uns in der Nähe der Raketen eingeschlagen“, berichtet Prince Chigamezu Ibgozuruike. Die Angst um das eigene Leben – sie ist wieder da.

Wohin jetzt? Inzwischen ist es der 25. Mai. Viele Ukrainer sind ins benachbarte Polen oder Moldau ausgereist, andere wollen nach Deutschland. So auch die beiden nigerianischen Kicker. „Wir haben gehört, dass es in Deutschland sicher ist, also war das für uns die beste Wahl“, betont Prince Chigamezu Ibgozuruike.

Mit dem Zug kommen sie zunächst in Düsseldorf an, dann müssen sie sich bei der Ausländerbehörde in Bochum registrieren lassen. „Alle waren sehr nett. Am Bahnhof hat man uns gezeigt, wo wir hinmüssen“, sagt Prince Chigamezu Ibgozuruike. „Weil wir ukrainische Dokumente hatten, wurden wir wie ukrainische Kriegsflüchtlinge behandelt.“ Weiter geht’s in eine Flüchtlingsunterkunft in Mönchengladbach, eine weitere Station ist Viersen, ehe sie in der Flüchtlingsunterkunft in der Rahmstraße in Voerde ankommen. Es ist der 22. Juni, ein neuer Abschnitt im Leben der beiden Zweifach-Geflüchteten beginnt.

Felix Chukwuma Ikoro erzählt ihnen von einem Fußballverein gleich nebenan – Glückauf Möllen. „Das war ein absoluter Glücksgriff für uns, dass die Jungs zufällig nach Möllen gekommen sind“, freut sich Christian Schwarz, Trainer der ersten Mannschaft. Denn die Neuzugänge bringen auf dem Platz eine ganz andere Qualität mit, als es in der siebten Spielklasse üblich ist. „Die Jungs könnten locker ein paar Klassen höher kicken. Spielerisch und körperlich bringen sie Qualitäten mit, die du sonst in der Bezirksliga nicht siehst“, fügt er begeistert an. „Außerdem haben sie eine super Einstellung. Die haben noch nicht eine einzige Trainingseinheit verpasst, seit sie hier sind. Und vormittags gehen sie meistens schon zehn Kilometer laufen.“

Prince Chigamezu Ibgozuruike ist der feine Techniker im Mittelfeld, Cristian „Willy“ Isioma Kelubia der Torjäger. Mit 15 Treffern führt er zur Saisonhalbzeit die Torjägerliste in der Bezirksliga Niederrhein Gruppe 6 an. „Das sind Granaten“, meint auch Hans Gutjahr.

Der 62-Jährige ist im Verein der erste Ansprechpartner für die drei Nigerianer - aber viel mehr als das. „Er ist wie ein Vater für uns“, nickt Prince Chigamezu Ibgozuruike. Hans Gutjahr hat ihm, „Willy“ und Felix zunächst Fußballschuhe und Trainingsklamotten besorgt, als sie außer einer Tasche und persönliche Dokumente nichts in der Hand hatten, als sie nach Deutschland kamen. Nun setzt der „Kümmerer aus Möllen“ alles daran, dass die Geflüchteten ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland erhalten.

„Willy ist mir morgens aufgefallen, als ich mit meinen beiden Schäferhunden spazieren war. Er war joggen oder hat auf dem Hof der Flüchtlingsunterkunft mit dem Ball jongliert“, erinnert sich Hans Gutjahr. „Dann kamen sie eines Tages mit dem Fahrrad zum Platz und haben gefragt, ob sie mittrainieren können. Da war aber gerade Sommerpause, also haben wir ihnen gesagt, dass sie in zwei Wochen wiederkommen sollten. Das haben sie getan.“

Beim Training zeigen die Nigerianer gleich, was sie draufhaben. Bis sie das erste Mal für Möllen spielen dürfen, vergehen aber ein paar Wochen. „Wir mussten auf die Spielgenehmigung warten, weil ihre Dokumente wohl nicht vollständig waren“, erzählt Hans Gutjahr.

Am dritten Spieltag gibt Cristian Isioma Kelubia sein Debüt für den SV Glückauf. Möllen gewinnt in Emmerich-Vrasselt mit 6:0, der neue Superstürmer trifft gleich viermal. In der Vorsaison gerade noch so eben dem Abstieg entwischt, mischen die Möllener nun oben mit. Zur Winterpause steht das Team von Christian Schwarz auf Platz fünf, das Derby beim SuS Dinslaken 09 ging gerade mit 1:4 verloren.

Prince treibt den Ball voran.

Weihnachten steht vor der Tür, ein Fest, zu dem normalerweise die Familie zusammenkommt. Die Familien der Flüchtlinge aber sind weit weg. Doch Hans Gutjahr wäre nicht der „Kümmerer von Möllen“, wenn er die drei Kicker aus Nigeria an solch einem Tag in der Flüchtlingsunterkunft zurücklassen würde. „Wir haben die Jungs eingeladen, gehen mit ihnen etwas essen und dann in den Gottesdienst“, erzählt der frühere Diplom-Veranstaltungskaufmann und spätere Gastronom.

Mehrere Vorstandsmitglieder des SV Glückauf sind am Nachmittag des Heiligen Abend dabei, ehe sie zu ihren eigenen Familien fahren. Geschenke gibt es für Felix, Prince und „Willy“ natürlich auch, wie schon letztens zum Geburtstag. „Wenn ich dann lese, wie sie mir über WhatsApp schreiben und sich bedanken, dann rührt einen das schon sehr. Das sind einfach prima Menschen“, bemerkt Hans Gutjahr.

Glückauf Möllen werden sie irgendwann verlassen, sie sind als Fußballer zu gut, um dauerhaft in der Bezirksliga zu kicken. Vorher aber will Hans Gutjahr dafür sorgen, dass seine Schützlinge in Deutschland eine sichere Zukunft haben. „Sie haben jetzt eine Aufenthaltsgenehmigung bis Februar 2024. Wir wollen uns nun darum bemühen, dass das vorläufige Bleiberecht in ein dauerhaftes umgewandelt wird“, verrät der langjährige Pächter des „Gasthauses Möllen“.

Einen Job hat er für die drei Nigerianer auch schon in Aussicht, vorher sollen sie aber noch besser Deutsch lernen. Auch um eine Wohnung will sich Hans Gutjahr kümmern, damit Felix, Prince und „Willy“ aus der Enge der Flüchtlingsunterkunft an der Rahmstraße herauskommen. Warum er das alles macht? „Ich hätte immer schon ein Herz für Bedürftige“, sagt Hans Gutjahr. „Und ich wünsche mir, dass die Menschen weniger an sich selbst denken, sondern etwas für andere tun.“

So wie er und die anderen rührigen Ehrenamtlichen beim SV Glückauf Möllen – der aufrichtige Dank von drei jungen Menschen, die gleich zweimal vor Terror und Krieg fliehen müssten, ist ihnen mehr wert als jeder Sieg auf dem Platz.

 

Dieser Text ist zuerst am 15. Dezember auf FUSSBALL.DE erschienen.